Der kleine Pilzsammler mochte sieben, acht Jahre alt sein, als sein Vater damit begann, ihn tiefer in das Reich der Pilze einzuweisen. Es war eine Schule, wie man sie aus Dörfern kennt: eingetrichtert wurden jene Pilzarten, die der Vater selbst von seinem Vater kennengelernt hatte. Das war nicht die Welt; an die 15 verschiedene Arten mochten es sein.
Dass der Vater manche von ihnen falsch benannte, ahnte niemand - und so störte es auch keinen. Es lag einfach daran, dass ihre Namen im Dorf vermutlich schon seit Generationen unrichtig weitergegeben worden waren. Auch dass er die Flockenstieligen Hexenröhrlinge respektvoll stehen ließ, weil er sie sein Leben lang für Satanspilze hielt: einerlei.
Die Hauptsache war, dass er die tödlich giftigen Grünen und Weißen Knollenblätterpilze von essbaren Champignons sicher unterscheiden und den kleinen Sammler somit entscheidend einweisen konnte.
Foto links: Kleiner Pilzsammler beim Lernen: Er begutachtet einen Knollenblätterpilz. Ob einen grünen, gelben oder weißen, darüber gibt dieses Foto meines Patenonkels aus dem Jahr 1967 keinen Aufschluss.
Zur "Abhärtung" musste der Kleine beim Geruchstest des Gelben Knollenblätterpilzes sogar einen der selbst gefertigten Pilzsäcke aus Baumwolle zwischen Nase und Pilz halten.
Dass Gelbe Knollenblätterpilze mit ihrem typischen Geruch nach frisch gerodeten Kartoffeln vergleichsweise harmlos sind, spielte keine Rolle. Denn beide, der Grüne und der Gelbe, haben Farbübergänge zum jeweils anderen hin. "Jeder möchte im Kindesalter gerne der andere sein", meinte Vater.
So hielten wir uns von beiden fern. Vater dehnte das Sammelverbot auf sämtliche Wulstlinge aus; selbst Perlpilze, die sein Vater leidenschaftlich sammelte und aß, lehnte er strikt ab.
Mit knapp 15 Pilzarten ließ sich der Winter passabel überstehen. Denn die Mutter kochte die Pilze in stundenlanger Arbeit in Dosen ein. Der Wintervorrat lagerte im Kellergewölbe aus Feldbruchsteinen. Allmählich begann der kleine Pilzsammler zu begreifen, dass dieser Waldschatz einen hohen Rang in der Versorgung der sechsköpfigen Familie einnahm.
Wie gerne wollte auch der kleine Pilzsammler endlich seinen ganz eigenen Beitrag zur Vorratsbeschaffung leisten! Diese Stunde schlug in den Herbstferien. Und sie schlug von der Kirchturmuhr mit der silbrigen Doppelspitze morgens früh um punkt sieben Uhr.
An diesem kühlen Morgen beschloss er, seinen Spankorb nicht, wie er es seit Beginn der Herbstferien getan hatte, mit Kastanien und Eicheln zu füllen, die er für ein schönes Sammelgeld stets dem Jäger brachte. Nein, heute hatte er anderes im Sinn.
Zu dem kleinen Fluss hin wurde es empfindlich kühl, zumal sich hier der Ort zu den Feldern hin öffnete. Er passierte die Mühle als letztes Gebäude am östlichen Dorfrand und war nun ganz für sich.
Während der kleine Pilzsammler immer weiter marschierte, kam er sich einsam und alleine vor. Zum ersten Mal in seinem Leben spürte er diese brennende Mischung aus verlorenem Schutz und gewonnener Freiheit. Noch Jahrzehnte später sollte dieses Brennen mit genau den gleichen Empfindungen von damals in vergleichbaren Situationen zurückkehren.
Nach etwa eineinhalb Kilometern hatte er sein Ziel erreicht. Dies musste die Weide sein, auf die ihn der Vater wiederholt aufmerksam gemacht hatte, wenn er ihn auf dem Fahrrad zum Arzt oder Zahnarzt ins Nachbardorf mitgenommen hatte. Er stieg durch den Stacheldraht, überblickte die Weide und hoffte, nun Wiesenchampignons zu finden.
Aber da war nichts. Enttäuscht schritt der kleine Pilzsammler in seinen Gummistiefeln tiefer in die Weide hinein, dem durch die Wiesen sich schlängelnden Fluss entgegen. Der Nebel schuf eine wunderliche Welt: Die Kühe um ihn herum schienen zu schwimmen, ihre Leiber waren in den Schwaden wie im Wasser verschwunden, nur ihre Köpfe lugten heraus.
Und endlich entdeckte er den ersten Champignon. Und gleich den zweiten und dritten, und mit einem Schlag stand er mitten in einem Pilzparadies. Wo er auch hinsah, überall sprenkelten weiße Tupfen aus dem taunassen Gras.
Vorsichtig drehte er den ersten Pilz aus dem Boden und betrachtete ihn eingehend. Immer wieder wendete er ihn, sah sich Hut und Lamellen, Stiel und Ring, Form und Farben an. Der Pilz war eher gedrungen, hatte einen kräftigen Stiel und deutlich rosarote Lamellen – sichere Merkmale für einen Champignon.
Nicht einen Hinweis auf einen Grünen Knollenblätterpilz fand der kleine Pilzsammler. Und zwar aus folgenden Gründen: Dem Pilz fehlte am Stielansatz eine Hülltasche, die die Knolle ummantelt. Auch befand sich am Stiel keine schwach feingeriefte, lappig hängende und gefaltete Manschette. Außerdem zeigte der Stiel kein blassgrünes Zickzackband. Und kein Hauch von Geruch nach süßlichem Kunsthonig.
Auch der Gelbe Knollenblätterpilz konnte es nicht sein, weil der nach faulenden Kartoffeln und nach Kartoffelkeller riechen müsste. Seine Knolle hätte scharf abgesetzt sein müssen. Und außerdem müssten seinem hellzitronengelben Hut – nicht umsonst heißt der Gelbe Knollenblätterpilz Amanita citrina – fleckige weiße Hüllreste anhaften.
Und der Kegelhütige Knollenblätterpilz? Sein Hut weist stets eine kegelartige Form auf. Die Huthaut müsste seidig glänzen, seine Lamellen wären reinweiß. Außerdem müsste er eine wenn auch anliegende, so doch deutliche Scheide am Stielansatz vorweisen.
Das alles beachtete und überdachte der kleine Pilzsammler. Und murmelte schließlich beruhigt: »Kein Knollenblätterpilz.« Mit Vaters Zweitmesser schnitt und säuberte er den Pilz und legte ihn in den Spankorb.
Auch den zweiten musterte er auf diese Weise, und den dritten und vierten. Das sorgsame Prüfen nahm so lange kein Ende, bis er endlich ganz sicher sein konnte, dass alle diese Pilze der gleichen Art angehörten.
»Keine Knollenblätterpilze da. Keine Grünen, keine Gelben, keine Kegelhütigen. Alles Wiesenchampignons!« bilanzierte er freudig. Dieser Gewinn bedeutete ihm viel mehr als der beachtliche Verlust an Zeit für die Bestimmung.
Foto rechts: Kleiner Pilzsammler mit seinem Vater: Eingehend wurde bestimmt, was alles im Korb war (2 Fotos privat).
Er machte dann zum ersten Mal die Erfahrung, dass eine Pilzlese auch erheblich zusetzen kann: waren von dem nasskalten Gras und der kühlen Luft zunächst nur seine Finger klamm, so versteiften sich bald seine Händchen vor Kälte.
Regelrecht zu schmerzen begannen sie, so dass er sie hin und wieder in die Innenseiten des Jackenendes schlug. Ja, er musste Pausen zum Wärmen der Hände einlegen, um überhaupt wieder lesen zu können. Da der Spankorb nicht ausreichte, füllte er noch den halben Leinensack mit der Beute.
Seine Rückkehr ins Dorf war ein kleiner Triumphzug. Stolz wählte der kleine Pilzsammler den Weg, der ihm die meiste Aufmerksamkeit versprach. Die Wirkung blieb nicht aus. „Junge, was bringst'e Pilze ins Dorf“, sagte eine der typisch dunkel gekleideten, spazierstockbewehrten alten Dorffrauen.
„Ach du liebe Güte, dann gibt's ja heute Pilze“, empfing ihn die Mutter. Der Vater aber musterte den Fund gründlich. Einen Pilz nach dem anderen nahm er aus Korb und Leinensack, betrachtete die Hutunterseite eines jeden, bis auch der letzte durch war. „Hast'e prima gemacht, mein Junge“, entließ er den Kleinen mit einem Schulterklopfen.
Erst drei Jahre darauf, mit seinem ersten Pilzbuch, lüftete sich dem kleinen Pilzsammler das banale Geheimnis, dass es auf Kuhweiden gar keine Grünen Knollenblätterpilze gibt. Ein wenig schämte er sich insgeheim über sein fehlgeleitetes Wissen und seinen nutzlosen Aufwand.
Erst als der kleine Pilzsammler groß geworden war, begriff er den unschätzbaren Wert der väterlichen Pädagogik: dass nämlich beim Pilze sammeln höchste Wachsamkeit selbst da vonnöten ist, wo man sie überhaupt nicht für nötig hält.
Wenn er heute auf einer spätherbstlichen Weide die letzten Pilze der Saison sucht – Wiesenchampignons, Rissige Ackerlinge, Hasenstäublinge – passiert es ihm, dass er plötzlich in Gedanken auf der taunassen, nebelverhüllten, pilzweißgetupften Weide seiner Kindheit steht. Ganz der einsame kleine Pilzsammler von damals ist er dann.
Nur gut, dass dort draußen lediglich die Kühe zusehen, wie er sich eine Träne der Dankbarkeit aus dem Auge wischt: Dankbarkeit für die eindringlichste, nachhaltigste Vorsorge der Welt, die ihm sein Vater gegenüber dem gefährlichsten Giftpilz unserer Wälder, dem Grünen Knollenblätterpilz, mit schweigendem Langmut hatte angedeihen lassen.
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Trockene Wälder, wochenlang kaum oder gar keine Pilze... Das muss nicht sein! Mit der vorzüglichen Pilzbrut von Hawlik hat das ein Ende. Wie wäre es zum Beispiel mit köstlichen Limonenpilzen?
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